Das Mädchen fuhr erschrocken auf. In der Ferne konnte sie Hufgetrappel hören. Im Bruchteil von einer Sekunde war sie hellwach und sprang auf. Sie hat Angst. Was, wenn das Räuber waren? Das Hufgetrappel kam näher. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Ihr Pferd ließ sie stehen und sie rannte tiefer in den Wald hinein, weit weg von dem Weg. Schließlich erreichte sie einen dicken, umgestürzten Baum, dahinter kauerte sie sich in den feuchten Boden und wartete ab. Die Geräusche der Reiter waren nun ganz nahe. Dann verstummten sie plötzlich und sie konnte Stimmen hören. Worüber gesprochen wurde, verstand sie nicht und sie war zu ängstlich, sich aus ihrem Versteck zu wagen. Die Stimmen kamen näher. Die Männer schienen nun zu Fuß unterwegs zu sein und bewegten sich direkt auf sie zu. Entsetzt stellte sie fest, dass wohl auch Hunde dabei waren und so dauerte es nicht lange, bis ein großer, sabbernder Hund vor ihr stand und Laut gab. Amaalia erkannte ihn sofort und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Es war einer der Hunde ihres Vaters.
Hier drüben! hörte sie einen der Männer rufen und dann stand sie zögerlich auf. Sie war völlig verdreckt und nass und schämte sich dafür. Sie stand da wie ein Häufchen Elend und konnte nur zu Boden blicken. Ulrich von Kohlscheid rannte mit großen Schritten zu seiner jüngsten, kniete sich vor sie hin und nahm sie in die Arme Tu so etwas nie wieder! sagte er versucht streng, doch es schwangen Erleichterung und Güte in seiner Stimme.
Oh Vater, verzeih mir! Ich fühle mich so schrecklich. Ich musste einfach fort... die Mutter... Sei ruhig, Kind. Ich weiß es ja. Sagte er leise, dann stand er auf und trug das völlig durchgefrorene und erschöpfte Kind zu den Pferden. Er half ihr auf ihr Pferd und legte seinen Umhang um sie. Dann ritten sie los.
Bei der Burg angekommen, stand die Mutter schon wartend am Eingang. Ihr Gesichtsausdruck war wie versteinert. Er zeugte von Wut, Enttäuschung und Zorn. Amaalia trat an sie heran, wagte es aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie stammelte leise
Mutter, ich... Da holte Mechthild aus, schlug dem Mädchen mit all ihrer Kraft ins Gesicht und sprach
Du wirst deine Strafe dafür bekommen. Ich werde dich ab nun lehren, was es heißt, ungehorsam zu sein. Dann drehte sie sich um und schritt davon.
Dicke Tränen kullerten über die nun heiße Wange. Amaalia weinte leise und wagte es nicht, einen Ton von sich zu geben. Die Amme kam und nahm sie mit in den Raum mit dem Zuber. Dort wurde sie entkleidet, gewaschen und bekam ein frisches, einfaches Kleid angezogen. Danach reichte ihr die Amme ein Kanten Brot mit einem Stück Käse
Iss das, schnell! Deine Mutter hat aufgetragen, dich ohne Essen in die leere Kammer einer Dienstmagd zu bringen. Aber du musst ja halb verhungert sein, immerhin bist du schon seit gestern Mittag verschwunden. Sie streichelt dem Mädchen mitleidig über den Kopf. Amaalia merkte jetzt erst, wie hungrig sie war. Sie aß schnell und als sie gerade fertig war, kam auch schon die Mutter. Sie führte sie zu einer kleinen, dunklen Kammer. Sie stand schon eine Weile leer, seit das Dienstmädchen entlassen wurde. Der Raum war gerade einmal groß genug für ein Bett und, dass man neben dem Bett noch stehen konnte. Das Fenster glich einer Schießscharte und lag so hoch, dass Amaalia nicht hinaussehen konnte. Auf einem kleinen Schemel stand ein Kerzenhalter mit einer Talgkerze. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Mechthild um und verließ das Zimmer. Die Tür wurde zugeschlagen und Amaalia hörte, wie sie zugesperrt wurde. Dann hörte sie, wie sich die Schritte der Mutter entfernten.
Traurig setzte sich das Mädchen auf das schmale Bett. Die Stroh gestopfte Matratze war uneben, löchrig und müffelte. Sie hätten sie genau so gut in den Kerker sperren können, aber vermutlich hatte sie das verdient. Zuerst bereute sie, dass sie davongelaufen war. Doch dann erwachte der Trotzkopf in ihr wieder und sie wünschte sich, noch einmal die Gelegenheit zu kriegen, um dann noch weiter wegzureiten, bis sie niemand mehr finden konnte. Sie hatte eine Riesenwut im Bauch, verfluchte die Mutter und wünschte sich, sie wäre als Junge geboren worden. Dann würde Mechthild sie vielleicht lieben, sie wahrnehmen, wäre stolz auf sie. Doch so stand sie immer im Schatten ihrer beider älteren Schwestern. Sie waren in den Augen der Mutter perfekt. Sie waren tugendhaft, gehorsam, still und fügten sich in alles, was ihnen auferlegt wurde. Lediglich Margarethe rebellierte einmal am Tag ihrer Verlobung. Doch das war längst verziehen.
Amaalia fragte sich, ob sie jemals dem Wunsch ihrer Mutter Genüge tragen wird können. Unter Tränen und dunklen Gedanken schlief sie dann endlich ein. Sie träumte wirr und wälzte sich im Bett umher. Wie lange sie schlief, konnte sie nicht sagen. Sie erwachte, als die Tür aufgeschlossen wurde und die Amme hereinkam. Sie brachte ihr einen Teller Getreidebrei und einen Krug mit Wasser.
Ich darf eigentlich nicht mit dir sprechen. Die Burgherrin hat es verboten. Oh mein liebes Kind! So überdenke doch dein Verhalten und sieh zu, dass du dich dem fügst, was deine Mutter von dir verlangt. Ich habe gehört, wie sie mit deinem Vater stritt. Sie möchte dir den Unterricht verbieten, doch dein Vater hat eine letzte Chance für dich herausgeschlagen Bereits im Gehen inbegriffen fügte sie hinzu
Sie wird später zu dir kommen. Überlege dir gut, wie du dich verhalten willst. Dann wurde die Tür wieder geschlossen und zugesperrt.
Das Kind rührte lustlos in seinem Brei herum. Sie fühlte sich, als hätte sie brennende Steine im Magen und brachte gerade einmal drei Löffel hinunter, da hörte sie wieder leise Schritte und das Klirren der Schlüssel. In der Tür stand dann ihre Mutter. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich kaum verändert. Sie betrachtete ihre Tochter, als wäre sie ein ekliges Krabbeltier. Amaalia fühlte sich klein und hilflos und traute sich nicht, zu sprechen. Dann bemerkte sie erst die Weidenrute in der Hand ihrer Mutter. Sie wird doch nicht? Die Augen des Kindes füllten sich mit Tränen und sie schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Wo war Vater nur? Er würde das nicht zulassen. Als könnte Mechthild ihre Gedanken lesen, sagte sie mit schneidender Stimme
Dein Vater ist nicht auf der Burg. Ich bin mit ihm übereingekommen, dass ich dich bestrafen werde, dir Manieren beibringe und du dafür weiterhin Unterricht von diesem Pater bekommen darfst. Wenn du dich noch einmal widersetzt und auch nur einmal deine Stimme erhebst oder ungefragt nach draußen gehst, dann verbiete ich dir diesen unsinnigen Unterricht ebenso."Dem Kind liefen die Tränen die Wangen hinunter. Die Mutter sah nicht aus, als würde sie sich erweichen lassen. Sie würde ihr alles nehmen, woran ihr etwas lag. Dann kam Mechthild in den Raum und deutete Amaalia, sie solle die Hände ausstrecken und umdrehen. Das Mädchen kannte das schon. Es war eine typische Strafe, wenn sie ungehorsam war. Doch diesmal schlug ihre Mutter noch fester zu und es schien schier endlos zu dauern. Sie wagte nicht, laut zu schluchzen, aus Angst, die Mutter könnte dann noch zorniger werden. Als sie endlich von ihr abließ, ging sie zur Tür und drehte sich noch einmal zu Amaalia um.
Glaub nicht, dass das schon alles war waren ihre Worte, dann ging sie.
Das Mädchen durchlebte eine ganze Woche lang die gleiche Prozedur. Die Amme kam zweimal am Tag, um ihr zu Essen zu bringen und sie zum Abort gehen zu lassen. Ansonsten musste sie in der dunklen Kammer bleiben. Die Mutter kam täglich, um ihr eine Lektion zu erteilen, wie sie sagte. Am Ende war der Wille des Kindes gebrochen. So schien es zumindest äußerlich. Die Strafe war zu viel für die Kinderseele und so nahm sich Amaalia vor, alles daran zu setzen, die Mutter zufrieden zu stellen.
Amaalia durfte die Kammer wieder verlassen und in ihr Zimmer gehen. Doch ansonsten änderte sich wenig an ihrer Situation. Ihr war es verboten, das Zimmer alleine zu verlassen. Sie nahm an den gemeinsamen Essen in der Halle teil und wurde von der Mutter weiterhin in den für sie wichtigen Dingen unterrichtet. Der Hauslehrer kam etwa alle zwei Wochen auf die Burg. Sie hangelte sich sozusagen von Mal zu Mal, ansonsten wäre sie völlig untergegangen.
Mechthild war zufrieden mit sich. Sie hatte es offenbar geschafft, das rebellische Kind in den Griff zu bekommen. Und so zogen die Wochen und Monate dahin und Amaalia entwickelte sich äußerlich endlich zu einer Jungen Dame. Sie ging aufrecht, bewegte sich wie eine Dame, rannte nicht mehr wild die Treppen auf und ab und war stets ruhig. Amaalia versuchte alles, um der Mutter zu gefallen und es schien zu klappen. Sie konnte sich wieder kleine Freiheiten erobern, war aber stets niedergeschlagen, traurig und übervorsichtig.
Dann wurde Mechthild krank. Sie fühlte sich immerzu unwohl, war matt und musste sich oft übergeben. Zu beginn wollte keiner an das Wunder glauben, welches geschehen war. Bald schon war es aber offensichtlich: Sie war wieder schwanger, in einem Alter, in dem Frauen nicht mehr schwanger werden sollten. Sie hütete oft das Bett und fühlte sich nicht in der Lage, aufzustehen. Amaalia war das Recht, entkam sie so immerhin dem harten Griff der Mutter.
Dann war die Zeit gekommen. Die Wehen setzten ein und die Hebamme wurde auf die Burg geholt. Der Burgherr war aufgeregt. Für ihn ging es darum, endlich einen männlichen Erben im Arm zu halten. Bange Stunden des Wartens folgten, dann trat eine Magd aus dem Zimmer und schaute schüchtern zu Boden. Der Burgherr fragte sie
Was ist? Wie geht es meiner Frau? Was ist mit dem Kind? Die Magd stammelte vor sich hin, man konnte sie kaum hören.
Sag das nochmal, sieh mich an und sprich lauter! Befahl der Mann und sie sagte mit zitternder Stimme
Eure Frau hat einen Sohn zur Welt gebracht. Doch sie hat sehr viel Blut verloren und wird immer schwächer. Die Hebamme tut alles in ihrer Macht stehende, ihr zu helfen. Doch es wäre sinnvoll, wenn ihr einen Priester kommen lassen würdet." Ein vertrauter des Vaters hörte dies und eilte davon. Ulrich von Kohlscheid schob die Magd unsanft zur Seite und ging in das Zimmer seiner Frau. Amaalia folgte ihm zögerlich. Im Zimmer roch es nach Kräutern, welche die Hebamme angezündet hatte, um den Raum auszuräuchern. Es war dunkel, bis auf ein paar wenige Kerzen am Bett gab es keine Lichtquellen. Eine Amme versorgte den brüllenden Säugling. Ulrich von Kohlscheid stand ungläubig am Bett seiner Frau. Diese streckte kraftlos den Arm aus. Es war vielmehr ein Fingerzeig, den er aber verstand. Er kniete sich an ihr Bett und hielt ihre Hand. Amaalia stand wie angewurzelt an der Türe. Ihr Vater weinte bittere Tränen um seine Frau. Sie lächelte sanft und all der Zorn und die Anspannung, die sie sonst umtrieben, schienen gewichen.
Ich hab dir einen Sohn geschenkt. Vergiss das nie! Sprich nicht so! Du wirst wieder zu Kräften kommen, Mechthild Seine Stimme war gebrochen, der kräftige Körper sackte in sich zusammen. Dann wurde Amaalia an der Schulter gepackt. Sie drehte sich erschrocken um. Ein Pfarrer stand an der Tür
Du solltest nach draußen gehen und für deine Mutter beten. Er sah sie streng an und schob sie hinaus. Dann wurde die Tür geschlossen. Amaalia rutschte an der Wand entlang langsam zu Boden. Dort saß sie mit angezogenen Beinen und weinte. Sie versuchte zu beten, doch ihre Stimme versagte immer wieder. Sie schluchzte und bekam kaum Luft. Die Augen waren blind vor Tränen.
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Ulrich von Kohlscheid hatte keine Zeit zu trauern. Aus politischen Gründen erwies es sich für empfehlenswert, die fünfte Tochter eines Grafen zu ehelichen- Brigitta von Falkenhorst. Es gab kein Fest. Die Braut wurde lediglich auf die Burg geholt und das Brautgeld bezahlt.
Die neue Burgherrin war kaum älter als Margarethe. Und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie die Kinder ihres Mannes verabscheute. Auf Amaalia war sie eifersüchtig, doch der kleine Jakob wurde von ihr regelrecht gehasst. Immerhin war er der rechtmäßige Erbe und selbst wenn sie Söhne bekommen sollte, würde das nichts daran ändern.
Amaalias Alltag war trist. Auf der Burg war die Stimmung gedrückt, denn der Burgherr war unglücklich, trank zu viel und suchte jede Gelegenheit, die Burg verlassen zu können. Er nahm seine Tochter nicht mehr mit zum Ausreiten und er ging auch nicht mehr mit seinem Falken auf die Jagd. Es war, als würde er sich alles verbieten, was ihm das Herz erleichtern könnte.
Die einzige Abwechslung, die der Alltag dem Mädchen bot, waren die Tage, an denen Pater Berthram zum Unterricht auf die Burg kam. Dann konnte sie in eine andere Welt entfliehen, sich den Geschichten des vielgereisten Mannes hingeben und für ein paar Stunden die Trauer auf der Burg vergessen.
An einem kalten und windigen Novembermorgen schenkte Pater Berthram dem Kind etwas. Amaalia hielt das Geschenk ungläubig in den Händen und traute sich nicht, das lindgrüne Linnen zu öffnen.
Nun macht es schon auf, es wird euch gefallen lachte der geistliche freundschaftlich. Dann zog sie die Schleife auf und schlug das Linnen zurück. Sie hielt ein Buch in der Hand.
Es handelte sich um ein kleines, aber kostbares Büchlein. In den ledernen Einband war eine Lilie geprägt und an der Seite war das Buch mit zwei Lederbändern zugebunden. Sie legte die Bücher vor sich auf den Tisch und öffnete das kleine Büchlein. Die Seiten waren leer. Nur auf der ersten Seite stand in der markanten Schrift des Lehrers:
Für Amaalia Henrietta von Kohlscheid.
Möget ihr für immer das wissbegierige und fantasievolle Mädchen bleiben, das ihr heute seid.
In ewiger Verbundenheit, euer treuer Lehrer
Pater Berthram von Munden
Amaalias Lächeln schwand aus ihrem Gesicht. Auf einmal war ihr klar, was sie vor sich liegen hatte. Niemand würde einem kleinen Mädchen einfach so ein solch teures Geschenk machen. Sie starrte das Buch vor sich an und kämpfte mit den Tränen. Dann sah sie den Pater an, der ihr gegenüber am Tisch saß.
Warum Pater Berthram? Warum verlasst ihr mich? Ich wollte doch noch so viel von euch lernen. Der Pater lächelte gütig, wie er es meistens zu tun pflegte
Ich wurde nach Florenz berufen und muss schon morgen dorthin reisen. Ich habe mich bereits verspätet, weil ich mich von euch verabschieden wollte. Ihr wart mir all die Jahre meine liebste Schülerin, neben all den hohlen Tölpeln, die ich leidlich lesen und schreiben lehrte. Ihr wisst genug, um euch nun weiteres Wissen aus Büchern anzueignen. Er bedachte Amaalia mit einem väterlichen Lächeln
Das kleine Buch widme ich eurer Fantasie. Es ist eine Arbeit aus Florenz, wo ich alsbald leben und wirken werde. Er zeigte dabei auf die Lilie, die auch im Wappen der Stadt Florenz zu erkennen war. Amaalia hatte das unlängst von ihm gelernt.
Füllt es mit Dingen, die es Wert sindSie schrak aus dem Traum auf, atmete schnell, ihre Kleidung war völlig durchgeschwitzt, ihr Gesicht tränennass. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie musste raus hier, zog das neue Kleid an, das Chris ihr gegeben hatte und ging auf etwas wackeligen Füßen hinaus.